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Rede auf der Solidaritätskundgebung
Laut Schätzung der Allgemeinen Zeitung haben etwa 1000 Menschen bei der Kundgebung der Seebrücke Mainz den gefährdeten und betroffenen Menschen in Afghanistan ihre Anteilnahme und Solidarität ausgesprochen.
Vielen Dank an die Frau, die die Rede von Prof. Dr. Trabert so engagiert, klar und laut vorgelesen hat! Und an Behrouz Asadi für die einleitenden Worte und die Organisation.
Am kommenden Samstag wird es wieder eine Solidaritätsveranstaltung für Afghanistan geben. Gehen Sie bitte hin, hören Sie den sprechenden Menschen zu und setzen Sie sich für sie ein: Weitere Infos hier.
Hier der Text von Prof. Dr. Traberts Rede vom 20.08.2021:
Leider kann ich nicht persönlich heute an dieser Solidaritätsveranstaltung teilnehmen, da ich noch eine Auslandsverpflichtung wahrnehmen muss. Dennoch sind meine Gedanken bei den Menschen in Afghanistan bzw. bei allen Menschen die aus diesem Land geflohen sind.
Vor Jahren habe ich in einem Flüchtlingslager in Afghanistan als Arzt helfen dürfen. Das Land und die Freundlichkeit der Menschen haben mich sehr berührt und fasziniert.
Vor genau einer Woche bin ich von einem Hilfseinsatz mit der Seehilfe-Organisation ResQship aus dem Mittelmeer zurückgekehrt. Wir waren dort bei der Rettung von 600 – 700 Bootsflüchtlingen beteiligt.
Wir mussten und konnten Menschen direkt aus dem Wasser kurz vor deren Ertrinken retten. Solche Bilder, solche Situationen vergisst man nie mehr. Unter den Geretteten waren auch Menschen aus Afghanistan. Im Mittelmeer versagt die europäische Gemeinschaft wie jetzt auch in Afghanistan.
Ich kenne viele geflüchtete Menschen aus Afghanistan, denen ich immer wieder in den verschiedensten Flüchtlingslagern Europas oder Asiens oder auch in Sammelunterkünften in Deutschland begegnen durfte. Besonders im alten und neuen Moria 2.0 Camp stehe ich weiterhin in ständigem Kontakt zu den betroffenen Menschen.
Da ist die junge Frau Zenaib, deren Beinprothese zerstört war und der wir eine neue, in Mainz gefertigte Unterschenkelprothese nach Lesbos bringen konnten.
Da ist der junge Mann Sohrab, dessen Eltern in Afghanistan ermordet wurden.
Da ist der Lehrer Azim, der gerade seinen 2. Ablehnungsbescheid in Griechenland erhalten hat und dem jetzt die Abschiebung droht.
Und da ist die Menschenrechtsaktivistin Mariam, die mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann vor den Taliban geflohen ist, da die Schule in der sie arbeitete von diesen Banden zerstört wurde.
All diese Menschen bangen in diesen Tagen noch stärker, noch intensiver als in den letzten Monaten um die Gesundheit, um das Leben ihrer Familienangehörigen, die immer noch in Afghanistan leben. Und viele haben weiterhin die Angst abgeschoben zu werden.
Afghanistan war nie ein sicheres Herkunftsland, dass wird in diesen Tagen deutlicher als je zuvor. Es war ein Unrecht und eine Menschenrechtsverletzung durch die deutsche Bundesregierung Menschen nach Afghanistan abzuschieben. Deren Leben war und ist jetzt noch mehr bedroht. Ich selbst habe immer wieder an Demonstrationen teilgenommen, die sich vehement gegen die Abschiebung von Menschen nach Afghanistan aussprachen.
Besonders betroffen sind in diesen Tagen Frauen und Mädchen. Obwohl die Taliban den Eindruck erwecken möchten, dass sie Frauen mehr Rechte zubilligen würden, sieht die Realität vollkommen anders aus. Ich bekam gestern von mir persönlich bekannten Frauenrechtlerinnen die ersten Informationen, dass Frauen der Zugang zu ihrer Arbeit verwehrt wurde und Mädchen nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Nach einer Studie von UNIFEM (Entwicklungsfond der UN für Frauen) sind 87% aller Frauen in Afghanistan innerfamiliärer Gewalt ausgesetzt. Diese Gewalt wird sich nach der Machtübernahme durch die Taliban manifestieren und zunehmen.
Wieder enttäuschen die westlichen Demokratien, da sie die Menschen, denen sie die Werte von Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit vermittelt haben, im Stich lassen. Ein Déjà-vu Erlebnis für viele! Auch für mich aufgrund meiner zahlreichen Besuche in den vergangenen Jahren in Nordsyrien in der Rojava-Region. Dort haben, insbesondere kurdische Aktivisten, eine funktionierende basisdemokratische Gesellschaftsordnung aufgebaut. Im Kampf gegen den IS unterstützt von westlichen Demokratien. Nach dem Besiegen der Terroristen durch insbesondere kurdische Kampfeinheiten, ließ man die Menschen dort auch im Stich. Beendete die militärische Unterstützung, und überlässt die Menschen dort dem Diktator Assad, dem wiedererstarktem IS und dem Autokraten und Demokratiefeind Erdogan, einem Nato-Partner der ungestraft menschenrechtswidrig militärisch in der Rojava-Region einmarschierte.
Die Demokratien, wie die in Deutschland, schürt Hoffnung, spricht von den hohen Werten dieser unserer Demokratien, lässt aber die Menschen im Stich, die diese Werte in ihren Ländern auch leben möchten. Diese Regierungen, die deutsche Bundesregierung, sind unglaubwürdig und sie setzen die freiheitlichen Werte, die diese Demokratien stark gemacht haben, aufs Spiel.
Die Aufgabe der Stunde ist es, die Menschen vor den Taliban zu retten. Frauen, Kinder und Männer, die aufgrund ihrer Kooperation mit den westlichen Vertretern existentiell gefährdet sind auszufliegen und einen sicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland zu gewähren. Es ist ein Skandal, dass sich Politiker, das sich ganze Parteien dem widersetzen. Jetzt muss den Menschen unbürokratisch geholfen werden. Anträge auf Asyl muss stattgegeben werden und niemand darf nach Afghanistan abgeschoben werden. Wer jetzt nicht handelt ist für den Tod zahlreicher Menschen mit verantwortlich.
Ich möchte zum Schluss meines kurzen Statements von einer Begegnung mit einer afghanischen Familie in der Zwerchallee, hier in Mainz, berichten. Diese Begegnung zeigt die Sensibilität und Fürsorge der geflüchteten Menschen gerade auch uns Deutschen, uns helfend Bemühenden gegenüber, auf.
An einem sehr heißen Sommertag behandeln wir zahlreiche geflüchtete Menschen die in einer Sammelunterkunft leben, in unserem Arztmobil, unserem fahrbaren ärztlichen Sprechzimmer. Es ist heiß und wir sind gestresst, müde und erschöpft. Plötzlich klopft jemand an unsere Arztmobiltür. Ich öffne, zugegebenermaßen etwas genervt, wer denn jetzt immer noch etwas so Dringendes, inmitten einer Behandlungssituation, von uns möchte. Vor unserer Tür steht eine afghanische Mutter mit ihren beiden Töchtern und hat ein Tablett mit Tee und Gebäck in der Hand. Sie überreicht uns dies mit den Worten: „Doktor, Du brauchst eine Pause!“ Eine Situation von Wärme und gegenseitigem Respekt geprägt, die ich nie wieder vergessen werde.
Lasst uns die Menschen in Afghanistan auch niemals vergessen. Und helfen wir all den jetzt so akut bedrohten Menschen in Afghanistan und sind wir in diesen Stunden gerade auch für die Menschen in unserer Nachbarschaft da, die aus Afghanistan stammen und so sehr um ihre Verwandten und Bekannten bangen! Und lassen wir Ignoranz und Gleichgültigkeit sowie Rassismus in unserer Gesellschaft keine Chance!
Gerhard Trabert, 20.8.2021